Heidelberger Stellungnahme
6. Mai 2019
Anlässlich der Jahreskonferenz 2019 der Direktor/innen der Ethnologischen Museen im deutschsprachigen Raum in Heidelberg wurde die folgende Stellungnahme verabschiedet:
Dekolonisierung erfordert Dialog, Expertise und Unterstützung – Heidelberger Stellungnahme
Im deutschsprachigen Raum bewahren mehr als zwanzig öffentliche ethnologische und Weltkulturen-Museen, Universitätsmuseen und -sammlungen sowie ethnologische Abteilungen in Mehrspartenmuseen eine bedeutende Anzahl an Sammlungen mit kulturellen Artefakten, Fotografien, Film- und Tondokumenten sowie Schriftarchiven. Diese Sammlungen erhalten wir in treuhänderischer Sorgfaltspflicht. Über die Objekte wurden Beziehungen zwischen Menschen angelegt, die für jene, die sie einst herstellten, für ihre Nachfahr/innen wie auch insgesamt für alle Gesellschaften bedeutsam waren und bis heute sind. Diese Beziehungen stehen – ähnlich Diaspora-Verbindungen – im Vordergrund unserer Aufmerksamkeit.
Wir begrüßen ausdrücklich das hohe aktuelle Interesse der Zivilgesellschaft an unseren Häusern, an unserer Arbeit, an Fragen und Problemen auch der Kolonialgeschichte der Sammlungen. Ebenso schätzen wir die Sorge darum, ob die Bewahrung von sensiblen Sammlungen, etwa sterblicher Überreste, Grabgegenstände, Sakralobjekte, oder von ggf. zentralem kulturellem Erbe rechtmäßig ist. Das neue öffentliche Engagement weist auf eine gesellschaftliche Entwicklung, die mit dem zunehmenden Bewusstsein für das in den Museen bewahrte Wissen und für die Bedeutung der Sammlungen für die Herkunftsgesellschaften einhergeht und mit der sich die Gesellschaft der ethischen Verantwortung im Umgang mit den Objekten stellt.
Es versteht sich von selbst, dass aufgrund von Unrecht im Moment des Herstellens oder Sammelns in die Museen gelangte Objekte – wenn dies von Vertreter/innen der Urhebergesellschaften gewünscht wird – zurückgegeben werden sollten. Möglichkeiten einer Restitution sollten ferner auch da verhandelbar sein, wo Objekte für die Herkunftsgesellschaften einen hohen Wert haben. Insgesamt bewahren die Museen allerdings Kulturerbe aus hoch differenzierten Erwerbs- und Sammlungsumständen und verkörpern mithin viel mehr als koloniales Erbe. Es versteht sich daher auch, dass die Beziehungen, die mit der Übernahme der Objekte in die Sammlungen eingegangen wurden, zu weit mehr verpflichten als lediglich zur Rückgabe von Objekten.
Alle Weltkulturen- und ethnologischen Museen und Sammlungen verstehen es als ihre Aufgabe, ein größtmögliches Maß an Transparenz im Umgang mit der Geschichte und dem Inhalt der Sammlungen zu gewährleisten, mit kooperativer Provenienzforschung als allgemeinem Standard. Es stellen sich nach wie vor wichtige Fragen: Welches Wissen bewahren wir? Für wen ist dieses Wissen heute von welcher Relevanz? Welche Interpretationen müssen dringend überdacht werden, was wurde bislang übersehen und verkannt? Wer waren die Urheber/innen und welche Rechte erwachsen aus ihrer Urheberschaft bis heute? Wer sind die Eigentümer/innen? Welche Formen der Beziehungen, des Teilens von Wissen und Sammlungen, welche Arten der Rückgabe sind erforderlich, möglich, erwünscht? Wie können Dialoge, Kooperationen und Aushandlungsprozesse gestaltet werden, in die das Wissen aller Beteiligten gleichwertig einfließt und genutzt wird? Welches mit den Sammlungen verknüpfte neue Wissen kann dabei entstehen?
Den folgenden Punkten fühlen sich alle Unterzeichnenden verpflichtet:
1. dafür Sorge zu tragen, dass alle, die aufgrund ihrer Geschichte und kulturellen Praktiken mit den Sammlungen verbunden sind, wenn irgend möglich von den Aufbewahrungsorten sie betreffender Sammlungen erfahren;
2. das bewahrte Wissen wo immer möglich mit den Urheber/innen und ihren Nachfahr/innen zu teilen, da erst dies die Voraussetzungen für gegenseitiges Vertrauen schafft;
3. laufende Forschungen zu unseren Sammlungsbeständen öffentlich zu machen.
Die Weltkulturen- und ethnologischen Museen und Sammlungen kommen dem wichtigen Bildungs- und Kulturauftrag nach, Wissen über Objekte wie auch über Kultur-, Geistes- und Kunstgeschichten jenseits eurozentrischer Weltentwürfe zu erforschen und zu vermitteln. Dabei setzen wir uns offen und bereitwillig mit verschiedenen Sichtweisen, kulturellen Widersprüchen und Konflikten um Objekte und ihre Bewahrung auseinander. Gemeinsam mit den Herkunftsgesellschaften suchen wir nach Lösungen, wie diesen Konflikten ethisch, gleichberechtigt und menschlich begegnet werden kann.
Im Mittelpunkt wird letztlich immer die Frage stehen, auf welche Art von gemeinsamer Zukunft sich die Weltgemeinschaft mit ihrem Reichtum an Zeugnissen plurizentrischer, alternativer, sozialtechnischer Weltentwürfe gerade in der Zeit des Übergangs vom analogen zum digitalen Zeitalter einigen kann. Wir schlagen vor, dass wir dazu den respektvollen Umgang mit materiellem und immateriellem Wissen, das in den Sammlungen bewahrt wird, gemeinsam als Ausgangspunkt und Rückversicherung für die Zukunft verstehen. Unsere Museen und Sammlungen sind bereits heute Dialogforen für immer wieder neu zu entdeckende und neu zu entwickelnde Themen und Formen solcher Arten der Verständigung.
Als Weltkulturen- und ethnologische Museen und Sammlungen erwarten wir von der Öffentlichkeit wie auch von den politischen und institutionellen Trägern ein klares politisches und finanzielles Bekenntnis zu unseren Häusern als den Kompetenzzentren und Vermittlungsinstitutionen für die dringend anstehenden Aufgaben. Erste Schritte in diese Richtung wurden unternommen, erste Richtlinien wie auch Eckpunkte wurden formuliert. Es sollte nun die Delegation von Entscheidungskompetenzen an die Museen erwogen werden. Für die Forschung erwarten wir von den Universitäten entsprechend innovative und der Komplexität der Sammlungen angemessene, auch praxisnahe Ausbildungsformate. Bereit stehen dafür schon heute selbstbewusste kritische junge Akademiker/innen an Museen und Universitäten in der ganzen Welt, die sich den Herausforderungen informiert und geschult, aber auch finanziell entsprechend ausgestattet, stellen können sollten.
Nun sind die Träger- und Mittelgeber-Institutionen gefordert, den aktuellen Herausforderungen für Weltkulturen- und ethnologische Museen und Sammlungen Rechnung zu tragen. Dafür braucht es eine gerechtere Verteilung von Ressourcen und Zugang zu Wissen und Sammlungen, mithin Förderinstrumente und finanzielle Mittel für Dokumentation, Digitalisierung und Zusammenarbeit mit Urheber/innengesellschaften; für kooperative Provenienzforschung und Klärung von Sammlungsgeschichte; für Partnerschaften mit Institutionen in den Herkunftsgesellschaften; für Repatriierung, Restitution und andere Formen einvernehmlicher und respektvoller Einigungen.
Es unterzeichnen
Wiebke Ahrndt, Übersee-Museum Bremen
Anna-Maria Brandstetter, Ethnografische Studiensammlung, Universität Mainz
Tina Brüderlin, Ethnologische Sammlung Museum Natur und Mensch, Städtische Museen Freiburg
Inés de Castro, Linden-Museum, Stuttgart
Mareile Flitsch, ISEK-Völkerkundemuseum Universität Zürich
Lars Frühsorge, Völkerkundesammlung der Hansestadt Lübeck
Ernst Halbmayer u. Dagmar Schweitzer de Palacios, Ethnographische Sammlung, Universität Marburg
Peter Joch, Städtisches Museum Braunschweig
Lars-Christian Koch, Ethnologisches Museum Berlin
Michael Kraus, Ethnologische Sammlung, Universität Göttingen
Katja Lembke und Alexis von Poser, Landesmuseum, Hannover
Heidrun Loeb, Nord Amerika Native Museum NONAM, Zürich
Albert Lutz, Museum Rietberg, Zürich
Léontine Meijer-van-Mensch, SKD Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen
Jakob Messerli, Bernisches Historisches Museum, Bern
Karoline Noack, Bonner Amerikas-Sammlung BASA, Universität Bonn
Margarete Pavaloi, Völkerkundemuseum der J. & E. von Portheim-Stiftung, Heidelberg
Barbara Plankensteiner, Museum am Rothenbaum MARKK, Hamburg
Eva Raabe, Weltkulturen Museum, Frankfurt a.M.
Wilfried Rosendahl, Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim
Christian Schicklgruber, Weltmuseum, Wien
Anna Schmid, Museum der Kulturen, Basel
Regine Schulz u. Andrea Nicklisch, Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim
Nanette Snoep, Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln
Daniel Studer und Achim Schäfer, Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen
Uta Werlich, Museum Fünf Kontinente, München
6th of May 2019
Statement approved on the occasion of the 2019 Annual Conference of the Directors of Ethnographic Museums in German Speaking Countries, in Heidelberg:
Decolonising requires dialogue, expertise and support – The Heidelberg Statement
Within the German speaking area, more than twenty public ethnographic and world cultures museums, university museums and collections, as well as the ethnography departments of composite museums, conserve a substantial number of collections comprising cultural artefacts, photographs, film and sound documents, as well as written archives. We safeguard these collections in a fiduciary duty of care. Relations have been established between humans through these objects, which have been – and continue to be – important for those who once created them, for their descendants as well as for all societies in general. These relations stand – similar to diaspora relations – in the foreground of our attention.
We explicitly welcome the high level of current concern for civil society in our establishments, in our work, and in questions and problems about the colonial history of our collections. Equally, we appre¬ciate concerns about whether it is legitimate to preserve sensitive collections such as human remains, burial objects, and sacred objects, or artefacts of potentially key cultural heritage. The new public engagement points to a social development which coincides with an increasing awareness of the knowledge preserved in our museums, and the relevance of the collections for societies of origin, in which society accepts an ethical responsibility in dealing with the objects.
It is a matter of course that objects which were brought into the museums due to unlawful circumstan¬ces at the moment of their creation or of collecting should – if this is desired by representatives of the originator communities – be repatriated. Possibilities for restitution should furthermore be negotiable where objects are of significant value to their communities of origin. Above all, however, our museums preserve cultural heritage from highly differentiated contexts of acquisition and collecting and, therefore, represent much more than colonial heritage. Thus, it is equally evident that the relations which have been entered into during the acquisition of the objects oblige us to much more than merely return objects.
All world cultures and ethnographic museums and collections understand that it is their duty to ensure the maximum transparency when dealing with the history and contents of their collections, with cooperative provenance research as a general standard. Important questions remain to be asked: Which knowledge do we preserve? For whom is the knowledge relevant nowadays, and in what ways? Which interpretations need to be urgently reconsidered, what has been overlooked as yet, and what has been misjudged? Who were the objects’ creators and what rights have developed today from their author¬ship? Who are the owners? Which forms of relations, of sharing heritage and collections, which kinds of restitution are necessary, possible, desired? How can cooperation, dialogue and negotiation pro¬cesses be shaped, into which the knowledge of all participants can be obtained and used, at an equal level? Which new knowledge related to the collections can thereby evolve?
All the signatories below are committed to the following principles:
1. to take care that all those who are related to the collections due to their history and cultural prac¬tices will, if at all possible, be informed about the places where collections relating to them are held;
2. to share the knowledge preserved wherever possible with the originators and their descendants, as this is how we will enhance the conditions for mutual trust;
3. to make ongoing research on our collection of materials public.
The world cultures and ethnographic museums and collections comply with their important educational and cultural mandate to explore and transmit knowledge about objects as well as cultural, spiritual and art histories beyond eurocentric world concepts. In doing so we openly and voluntarily address differing points of views and cultural antagonisms, as well as conflicts around objects and their preservation, and together with societies of origin we search for solutions, ways to counter such conflicts ethically, equitably and humanely.
The major question will ultimately be which common future the world community will be able to agree on with its wealth of testimonies from pluricentric, alternative, socio-technical world concepts, particularly during the transition from an analogue to a digital age. We propose that, as a response to this challenge, we adopt the respectful dealing with the material and immaterial knowledge preserved in our collections as a common starting point and reinsurance for the future. Our museums and collections are already creating innovative new forms of dialogue to discover and develop themes and forms of such kinds of common understanding.
As world cultures and ethnographic museums and collections, we expect from the public as well as the political and institutional responsible bodies a clear political and financial commitment to our institu¬tions as the centers of competence and mediation for the urgent tasks to be performed. First steps in this direction have already been taken, first guidelines and fundamental cornerstones have been formu¬lated. There is now a need to consider the delegation of decision-making competences to the mu¬seums. With respect to research, we expect universities to develop innovative and also practice-related training formats which take into account the complexity of the collections. Today, self-confident critical young academics in museums and universities around the globe stand ready to face these challenges. They should be enabled to become well informed and well educated, but also financially adequately equipped to do so.
We therefore call on the responsible bodies and funding institutions to meet the needs of these current challenges for world cultures and ethnographic museums and collections. For this, a fairer distribution of resources and access to knowledge and collections is needed, including funding instruments and financial means for documentation, digitisation and cooperation with originator societies; for collabo¬rative provenance research and clarification regarding collection histories; for partnerships with institutions in societies of origin; for repatriation, restitution and other forms of consensual and respectful agreements.
Signatories:
Wiebke Ahrndt, Übersee-Museum Bremen
Anna-Maria Brandstetter, Ethnografische Studiensammlung, Universität Mainz
Tina Brüderlin, Ethnologische Sammlung Museum Natur und Mensch, Städtische Museen Freiburg
Inés de Castro, Linden-Museum, Stuttgart
Mareile Flitsch, ISEK-Völkerkundemuseum Universität Zürich
Lars Frühsorge, Völkerkundesammlung der Hansestadt Lübeck
Ernst Halbmayer and Dagmar Schweitzer de Palacios, Ethnographische Sammlung, Philipps-Univer¬sität Marburg
Peter Joch, Städtisches Museum Braunschweig
Lars-Christian Koch, Ethnologisches Museum Berlin
Michael Kraus, Ethnologische Sammlung, Universität Göttingen
Katja Lembke and Alexis von Poser, Landesmuseum, Hannover
Heidrun Loeb, Nord Amerika Native Museum NONAM, Zürich
Albert Lutz, Museum Rietberg, Zürich
Léontine Meijer-van-Mensch, SKD Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen
Jakob Messerli, Bernisches Historisches Museum, Bern
Karoline Noack, Bonner Amerikas-Sammlung BASA, Universität Bonn
Margarete Pavaloi, Völkerkundemuseum der J. & E. von Portheim-Stiftung, Heidelberg
Barbara Plankensteiner, Museum am Rothenbaum MARKK, Hamburg
Eva Raabe, Weltkulturen Museum, Frankfurt a.M.
Wilfried Rosendahl, Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim
Christian Schicklgruber, Weltmuseum, Wien
Anna Schmid, Museum der Kulturen, Basel
Regine Schulz and Andrea Nicklisch, Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim
Nanette Snoep, Rautenstrauch-Joest-Museum, Köln
Daniel Studer and Achim Schäfer, Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen
Uta Werlich, Museum Fünf Kontinente, München